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Der Auszug des Denkens aus dem Gehirn / visual poem No 1

Ein Turntabel Theater von Laura Koerfer
Konzept, Text Kollage, Ausstattung und Performance von Laura Koerfer
Sound von Régis Vuilliomenet
«Der Auszug des Denkens aus dem Gehirn» wurde 2021 im Hyperlokal aufgeführt

Vorbereitung

Dann kam Corona und ich hatte die Schlüssel zu einem Theater, zu jenem Theater, wo ich sonst als Produzentin und Kuratorin tätig bin. Ich stand also da in dieser alten leeren Autogarage, legte den Kopf zur Seite und hörte zu. 

Da war auf der einen Seite diese Ruhe und Leere des Theaters, dem alles fehlte und auf der anderen Seite dieser tief verwundete und schon so oft ignorierte Aufschrei der Black Community auf allen Kanälen. Da war viel neue und alte Wut, Angst, Verzweiflung die wiederum viel Wut, Angst und Verzweiflung triggerte und es war ein Balanceakt sich selbst als Weisse nicht zu verteidigen, sondern das eigene Weiss-Sein anzuerkennen und all jene Privilegien, bewusste und unbewusste, die mit diesem Weiss-Sein verbunden waren an die Oberfläche zu holen und anzuschauen. Da war einerseits dieses neue höchst private Leben im Lockdown, doch da waren eben auch all jene Menschen, die den alle Systeme durchdringenden Rassismus nicht mehr hinnehmen konnten. Da war einerseits diese neue Stille und auf der anderen Seite wurde eine breite Öffentlichkeit laut. 

Da war einerseits dieses Nicht und andererseits dieses Alles. 

Ich habe versucht meinen status quo innerhalb des herrschenden Rassismus auszumachen und diesen wie eine ansteckende Krankheit in meinen Gedanken und im Körper selbst zu lokalisieren, einzukreisen und frei zu legen. Diese Standortbestimmung erforderte neben der eigenen biographischen Auseinandersetzung eine historische Diagnose. Ich wollte wissen, wo sich ein Anfang oder wo sich Anfänge des kontemporären Rassismus ausfindig machen liessen. Als Hauptwerkzeug diente mir das Buch «Die Geschichte des Rassismus in Europa» des amerikanischen Historikers George L. Mosse. Er schlägt die Brücke zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Rassismus und zeigt auf wie stark der in Europa gross gezogene Rassenkult an den Verhältnissen in den USA beteiligt waren und sind. Besonders seine kritische Durchleuchtung der Aufklärung, welche Mosse als den Anfang des Rassismus - wie wir ihn heute kennen – setzt, hat mir neue Perspektiven eröffnet:

«Das Europa des 18 Jahrhunderts war die Wiege des modernen Rassismus. Seine wichtigsten kulturellen Strömungen hatten wesentlichen Einfluss auf die Grundlagen rassistischen Denkens.» (Mosse, 1978, 2020, p. 3).
«Die Welt der Aufklärung war eine Welt ohne Illusionen, in der ein kritischer Verstand über die scheinbar klaren und vernünftigen Gesetze des Universums nachdachte. Der persönliche, geheimnisvoll handelnde Gott trat hinter die unwandelbaren Gesetze der Vernunft zurück und diese vermochte der Mensch zu entdecken und zu klassifizieren.» (Mosse 6).
«Ein Kennzeichen der Aufklärung war der fundamentale Versuch, den Standort des Menschen in der Natur zu definieren. Für das neue Verständnis der Stellung des Menschen in Gottes Universum hielt man die Natur und die Klassiker für wesentlich und man verstand sie als neue Masstäbe für Tugend und Schönheit.» (Mosse 3).
«Man kann die Bedeutung gar nicht überschätzen, die die Akzentuierung des Visuellen für das rassische Denken hatte.» (Mosse 24).

Und so war die Aufklärung eine Zeit, in der nicht nur die Kategorisierung des Menschen in verschiedene Gruppen im Zentrum der Wissenschaft und der Philosophie stand, sondern eben auch die Hierarchisierung dieser Gruppen. Und diese Hierarchie wurde, so Mosse, als naturgegeben angenommen. Der Missbrauch des Totschlagarguments NATUR findet sich im Rassismus überall. Dabei werden ganze Bevölkerungsgruppen in ihre anscheinende eigene Natürlichkeit hineinargumentiert und stigmatisiert. Ein höchst künstlicher Vorgang, ein Konstrukt - Architektur - welche einzig die Schwächung des Gegenübers zum Ziel hat. 

Ich bin als Frau, als Jüdin, als Mutter, als Europäerin, als Künstlerin, als Zeitgenossin der Meinung, dass die Natur immer noch viel zu oft hinhalten muss für all jene Argumentationen, wo Macht bereits missbraucht wurde oder dabei ist missbraucht zu werden. Weder ein Mann ist von Natur aus, noch eine Frau, noch die Intelligenz, noch das Begehren, noch eine Person of Color ist von Natur aus irgendetwas. 

Die Welt wie ich sie heute vor mir sehe, als eine veränderbare zu begreifen ist für meine eigene Entwicklung und für meine künstlerische Praxis existentiell. Mit dieser Haltung ging ich in die Recherche hinein.

Produktion

Ich hörte Vorträge und Podcasts, Interviews und Poetry Slams. Ich hörte Nonsens, Werbung, Gespräche und auch mal Hochkultur. Mein Kanal war YouTube und plötzlich schien alles da. Jedes Wort, was ich auf der Bühne brauchte, wurde dort schon gesagt. Aus dieser Internetrecherche filterte ich gesprochene Samples heraus und kombinierte sie mit den Sounds meines Partners Régis Vuilliomenet zu einer Text- und Soundkollage. 

Corona hat die Wahl meiner künstlerischen Mittel reduziert. Da kam nichts Neues, nur ein Bekenntnis zu dem, was ich vorher schon liebte. Und ich baute eine Drehbühne, geräuschlos und fliegend, ein Teller im Raum.  Drehbühnen provozieren einen anderen Blick, ich schaue dem Theater hinterher. Dabei schalten meine Augen auf softfocus, sie lassen das Drehen passieren. In diese Entspannung hinein flechten sich Gedanken, expandiert der Raum, drifte ich ab. Und erst in diesem mode fokussiert mein Gehör und ich kann endlich zuhören.  Mein Atem geht ruhig.  Die Zeit läuft. 

Um diese Drehbühne herum positionierte ich Lautsprecher und beschallte die Raummitte.

Die Besetzung des Ensembles ist bewusst all white gehalten, wie sonst so oft im Theater. 

Roboter als die Verkörperung von otherness stehen stellvertretend für alles Fremde in dir und in mir. 

Ablauf

Die Performance «Der Auszug des Denkens aus dem Gehirn» nutzt die Stilmittel der Séance, um ein Publikum von plus/minus 15 Personen, die im Kreis um eine schwebende Drehscheibe herumgesetzt werden, via performative Mittel zu aktivieren. Dabei agiert eine vermummte Person als Medium, bewegt Gegenstände, verändert Licht und spielt mit Sichtbarkeiten. Diese Person fällt nicht in Trance und kommuniziert nicht mit dem Jenseits, wie in der klassischen Séance üblich, sondern steht im Dienst die ungehörten Stimmen der in der raumfüllenden Soundinstallation zu hörenden Personen und Gedanken zu amplifizieren und live in Szene zu setzen. Der erste Teil des Abends dauert 45 Minuten und dient dazu dem Thema des Rassismus sinnlich und assoziativ beizukommen und möglichen Gesprächsstoff für den zweiten Teil des Abends zu liefern. 

Im anschliessenden zweiten Teil versammelt sich das Publikum gemeinsam um einen Berg brennender Kerzen und beginnt oder beginnt kein Gespräch über das eben Gehörte/Gesehene. Die vermummte Person liest als Auftakt einen Textausschnitt aus dem Buch «Der Geschichte des Rassismus in Europa» von George L.  Mosse vor und verlässt dann die Runde. Das Angebot zur weiteren Auseinandersetzung ist gegeben, der Ausgang des Abends bleibt bewusst offen. 

Film Credits - Director of Phtography und Editor: Benedikt Schnermann